Der Scheinangriff

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U 2511 und die Mythen um den Scheinangriff auf HMS Norfolk

Beginnend in den 1950er und 1960 Jahren, erschienen in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum U-Bootkrieg 1939-45 von Autoren wie Wolfgang Frank, Harald Busch, Jochen Brennecke oder Cajus Bekker sowie Berichten dazu in Zeitungen und Zeitschriften, später auch in anerkannten marinehistorischen Standardwerken wie Roskill´s „The War at Sea“ und Rohwer/ Hümmelchen´s „Chronik des Seekrieges 1939-45“, nahezu deckungsgleiche Berichte von einem angeblichen Scheinangriff des Typ XXI U-Bootes der Kriegsmarine U 2511 unter seinen Kommandanten KKpt Adalbert Schnee auf den britischen Kreuzer HMS Norfolk als Teil eines Einsatzverbandes der Royal Navy bei Kriegsende 1945, vermutlich am frühen Morgen des 05.05.1945 im Seegebiet nördlich oder nordwestlich der Shetland-Inseln.

„Scheinangriff“ deswegen, weil zuvor von der deutschen Marineführung, d.h. am Nachmittag des 04.05.1945, den noch in See stehenden U-Booten die Einstellung der Kampfhandlungen befohlen worden war und sich U 2511 nach Aufnahme dieses Befehls auch daran hielt. Der Scheinangriff wurde in der Literatur seitdem wiederholt als Beweis für die Wirksamkeit des neuen U-Boottyps XXI angeführt und daraus über eine zwar späte, aber durchaus noch mögliche Wende im seit 1939 andauernden Seekrieg spekuliert. Ein Blick auf die Zeitschiene zur Genesis der Geschichte um diesen Scheinangriff ist angeraten. Die ersten Berichte von dem Scheinangriff finden sich in der populärwissenschaftlichen Literatur der 50er Jahre. Diese müssen irgendwie ja durch Aussagen dazu belegt worden sein, einer der Autoren (Wolfgang Frank in: Die Wölfe und der Admiral) soll dabei sogar Zeitzeuge gewesen sein.

HMS Norfolk
HMS Norfolk

Die seriöse marinegeschichtliche Darstellung zu dem Scheinangriff beginnt mit 1961 mit einer zunächst unter Verschluss gehaltenen Ausarbeitung im Auftrag der britischen Admiralität des ehemaligen U-Bootoffiziers FKpt a.D. Günter Hessler, bei Kriegsende 1. Admiralstabsoffizier in der Operationsabteilung des BdU, gehen dann weiter zu Roskills britischen Standardwerk „The War at Sea“ (dort Volume III, Part II S.302) aus 1961 und findet sich dann schließlich 1968 auf der deutschen Seite auch in Rohwer/ Hümmelchen´s Werk zur Chronik des Seekrieges 1939-1945 (dort Seite 554) von 1968.

Noch 1981 wiederholt Günter Böddeker in seinem Buch „Die Boote im Netz“ (dort Seite 363) die Geschichte von Scheinangriff. Allen scheint gemeinsam, dass hier relativ unkritisch die wohl früh aufgestellte Behauptung von dem Scheinangriff sozusagen als Fakt übernommen worden ist. Der entscheidende Zeitzeuge dazu, der Kommandant von U 2511, meldet sich mit seinen Erinnerungen dazu nicht vor 1964.

1998 erschien dann eine Untersuchung des angeblichen Scheinangriffes von U 2511 auf HMS Norfolk durch den Marinehistoriker Axel Niestlé, die erstmalig nach Studium der teilweise erst später zugänglich gemachten Akten und anderer Dokumente eine zusammenfassende kritische Darstellung und Bewertung der bislang scheinbar so feststehenden Ereignisse um diese Begegnung eines deutschen Typ XXI U-Bootes mit einer britischen Einsatzgruppe um einem Kreuzer Anfang Mai 1945 vorlegte. Niestlé hinterfragt auf der Basis zahlreicher Belege fast alle bislang dazu veröffentlichten Aussagen und kommt zu dem Schluss, dass es mit ziemlicher Sicherheit nie einen Scheinangriff von U 2511 auf HMS Norfolk gegeben hat, zumal die nachweislichen Positionsangaben beider Fahrzeuge, sowie die später aufgrund der Aussagen von Zeitzeugen und Populärschriftstellern dazu erneut geschätzten Bewegungen des U-Bootes und des Kreuzers die Wahrscheinlichkeit eines solches Treffens klar ausschließen lassen.

Korvettenkapitän Adalbert Schnee
Korvettenkapitän Adalbert Schnee

Niestle stellt weiterhin fest, dass auch mögliche andere Verbände oder Einzelfahrzeuge der Royal Navy neben der Einsatzgruppe um HMS Norfolk nie im fraglichen Seegebiet des angegebenen Scheinangriffs gewesen sein können. Ein weiteres Argument von Niestlé für seine Zweifel an den Aussagen Schnees und anderer ist die erwiesene „Großzügigkeit“ des späteren Ritterkreuzträgers Schnee bei Angaben zu seinen Versenkungserfolgen auf den über 10 Fronteinsätzen als Kommandant mit den U-Booten U 6, U 60 und U 201, die im Nachherein um mehr als 50 % reduziert werden mussten.

Damit haben sich über Jahrzehnte weitgehend ungeprüft Mythen, sowohl um einen angeblichen Scheinangriff eines neuartigen deutschen U-Bootes auf einen britischen Kreuzer in den letzten Kriegstagen, als auch daraus abgeleitet, zur späten, aber noch möglichen „Wende“ im U-Bootkrieg durch den neuen Typ XXI gehalten, die zumindest, was den Scheinangriff angeht, nie ernsthaft hinterfragt worden sind.

Niestlés Untersuchungen zum angeblichen Scheinangriff führten zu einigen Leserbriefen. So will im Januar 1999 der Konteradmiral a.D. Erich Topp, Crewkamerad von Schnee, Leiter der Erprobungsgruppe U-Boote und zuletzt Kommandant vom Typ XXI U-Boot U 2513 in einem Leserbrief zu Niestlés Artikel zwar nichts Schlechtes über Schnee zu sagen, äußert dann aber Zweifel an einigen der von Schnee geschilderten Einzelheiten des Scheinangriffs und negiert die oft behauptete mögliche späte „Wende“ im Seekrieg durch die Einführung des Typ XXI U-Bootes. Viel mehr in Erwiderung oder Ergänzung, aber auch Widerspruch zu Niestlés Arbeit konnte aber bislang nicht beobachtet werden, zum Teil interessante diesbezügliche Kommentare finden sich später allerdings noch in einigen der Chatforen auf marine- oder militärhistorischen Homepages im Internet.

Nachdem Lawrence Paterson noch 2009 in seinem Buch zum Schicksal der deutschen U-Boote bei und nach der Kapitulation im Mai 1945 offenbar ungeprüft die Geschichte von Scheinangriff von U 2511 übernimmt, ist es erst Dieter Hartwig, der 2010 in seinem Buch über Großadmiral Dönitz, Niestlé´s Untersuchungen aufnimmt und sich dabei auch der These von der späten „Wende“ im U-Bootkrieg (Hartwig´s Kapitel dazu: „Illusion vom Endsieg mit neuen Booten“) widmet. Im Wesentlichen stehen aber die überlieferten, älteren Behauptungen vom erfolgreichen Scheinangriff von U 2511 den neueren Arbeiten von Niestlé unverändert gegenüber, ohne dass es zu weiteren wissenschaftlichen, marinehistorischen Untersuchungen gekommen ist. Während der Mythos um die späte, aber noch mögliche „Wende“ durch den Zulauf der Typ XXI U-Boote in seriösen seekriegsgeschichtlichen Untersuchungen weitgehend als solcher festgestellt worden ist, scheint der Mythos um den Scheinangriff weiterzubestehen und es sind seit 1998 bislang auch kaum Korrekturen in den einschlägigen Untersuchungen früherer Jahre zu erkennen.p256_1_02

Wo stehen wir nun mit unseren Erkenntnissen über 10 Jahre nach Niestlé? Es hat also seit 1998 bis auf wenige Ausnahmen keine ernsthaften Versuche gegeben, neues Licht in die Ereignisse auf U 2511 in den letzten Kriegstagen zu bringen. Mögliche Zeitzeugen gibt es auch nicht mehr (Schnee selbst starb 1982), zumal die Befragungen der letzten Überlebenden, u.a. durch Niestlé im Rahmen seiner Untersuchungen, nichts Neues zu den ur-sprünglichen Aussagen von Schnee und anderer ergeben haben, ja oft nur für zusätzliche Verwirrung hinsichtlich der Zeitangaben und Einzelheiten in den Abläufen des Scheinangriffs geführt haben. Selbst das U-Boot Archiv verfügt über keine neueren Dokumente, die möglicherweise die Bewertungen von Niestlé erhärten – oder eben auch zweifelsfrei widerlegen könnten.

Als letztes Dokument liegen uns nur die Erinnerungen eines Bordingenieurs von U 2511, des damaligen stellvertretenden. LI (= „W I“) Heinrich Knappmann, aus dem Februar 1999 vor. Dieser meint wenigstens, dass der angebliche Zeitzeuge (war angeblich als PK-Berichterstatter auf der letzten Fahrt von U 2511 dabei) Wolfgang Frank vor dem Auslaufen von U 2511 aus Bergen zur fraglichen Unternehmung ausgestiegen sei, was ein bezeichnendes Licht auf die Glaubwürdigkeit von Wolfgang Frank zu den entsprechenden Aussagen in seinem Buch wirft, in dem er u.a. ausführlich die Ereignisse während des Scheinangriffs so detailliert schildert, als sei er dabei gewesen.

p256_1_03Doch auch Knappmann bestätigt einen Scheinangriff, widerspricht aber Schnees Aussagen von 1964 zur Anwesenheit von HMS Norfolk in Bergen beim Einlaufen von U 2511 nach seiner Rückkehr von der Unternehmung mit ihrem Scheinangriff. Im Übrigen beurteilt er Schnee aber als einen glaubwürdigen, pflichtbewussten und uneigennützigen Offizier und will generelle Zweifel an dessen Darstellungen nicht gelten lassen.

Da kein Kriegstagebuch von U 2511 zur weiteren Nachforschung vorliegt, wie auch amtliche britische Dokumente, wie z.B. nachträgliche Auswertungen von Seekriegsoperationen oder das Kriegstagebuch von HMS Norfolk und von anderen Einheiten des umgebenden Einsatzverbandes bislang nichts hergeben und ein Protokoll der von Schnee behaupteten Vernehmung an Bord von HMS Norfolk in Bergen nach seiner Rückkehr mit U 2511 offenbar nicht existiert, bleibt nur die mühsame Rekonstruktion der Ereignisse möglich, wie es auch Niestlé so sorgfältig getan hat. Die wichtigste Zeitzeugenaussage ist natürlich die von Adalbert Schnee selbst. Aber sein, nach persönlichen Erinnerungen verfasster Artikel von 1964 wird nach den heutigen Erkenntnissen (Niestlé und andere) schon bei seinen Zeitangaben so ungenau, er legt z.B. das Auslaufen auf den 30.04.1945 und das Einlaufen auf den 05.05.1945, dass sich natürlich Zweifel hinsichtlich der übrigen Aussagen regen. Dies wird dann ganz schwierig, wenn Schnee behauptet, beim Einlaufen von U 2511 in Bergen am 05.05.1945 hätte bereits HMS Norfolk dort gelegen und er wäre sofort zur Vernehmung an Bord gebracht worden.

HMS Norfolk war am 05.05.1945 nachweislich in See nördlich und westlich der Shetland-Inseln auf dem Weg zum Stützpunkt Scapa Flow. Der Kreuzer lief erst am 15.05.1945 in Bergen ein, was umfänglich durch Logbucheintragungen vom HMS Norfolk und den begleitenden Einheiten, damalige Medienberichterstattung und viele Fotos belegt ist. Andererseits hat Schnee ja offenbar beim Einlaufen in Bergen klare Erlebnisse über eine Begegnung mit HMS Norfolk und anderen Fahrzeugen des Verbandes mitgebracht, die er sich nicht einfach auf der Grundlage freier Phantasien ausgedacht haben kann, sondern möglicherweise bei der Sichtung anderer Fahrzeuge während des Einsatzes durch einfache Verwechslungen als HMS Norfolk identifiziert hat.

p256_1_04Zudem war er an Bord natürlich nie allein und konnte sich somit seine spätere Schilderung vom Scheinangriff nicht einfach so ausdenken – und eine diesbezügliche Verabredung unter der Besatzung wäre eine ziemliche Unterstellung. Dennoch zeigt sich mit den Schilderungen erneut das bekannte Problem mit Erinnerungen von Zeitzeugen und dem Nutzen von deren Aussagen für historische Untersuchungen. Bei allem Respekt vor der Redlichkeit Adalbert Schnees, auch er ist nur ein weiteres, leider häufiger anzutreffendes Beispiel, das die nur auf belegbare Fakten gestützte Arbeit eines Historikers so schwierig macht, wie es auch ein Prinzip des U-Boot-Archiv bei Auskunftsersuchen ist.

Und, wenn dann renommierte Historiker unkritisch falsche Aussagen übernehmen, ja diese sogar voreinander abschreiben und dieses sich dann zum allgemeinen historischen Fakt entwickelt, wie der angebliche Scheinangriff von U 2511 auf HMS Norfolk, ist es schwer, hierzu neue Fragen zu stellen. Dafür gebührt Niestlé sicherlich Dank und Anerkennung, doch ob es einer weiteren Überprüfung des Mythos um den Scheinangriff von U 2511 den Weg gebahnt hat, ist bislang noch nicht überall erkennbar.

Fazit:

Es wird wohl nie ganz zu klären sein, was auf dieser letzten Fahrt von U 2511 geschehen ist. Dessen Kriegstagebuch existiert offenbar nicht mehr, die entsprechenden Logbücher der Royal Navy und spätere Auswertungen von britischen Seekriegsoperationen nennen keine Kontakte mit einem deutschen U-Boot im fraglichen Zeitraum. Die Aussagen der deutschen Zeitzeugen weisen zum Teil Irrtümer auf, sind auch hier und dort wider-sprüchlich oder unwahrscheinlich. Im günstigsten Fall beruhen sie auf einer einfachen Verwechslung eines Seezieles, im ungünstigsten Fall sind sie jedoch eher als Wunschdenken zu bewerten. Unterlagen von der angeblichen Vernehmung des Kommandanten von U 2511 zu dem Scheinangriff durch ein Befragungsteam auf HMS Norfolk in Bergen fehlen ganz, wenn dieses überhaupt je in dieser Form so stattgefunden hat, zumal solche Vernehmungen gewöhnlicherweise minutiös protokolliert worden sind.

Dennoch:

p256_1_05Auch Zeitzeugen sollte nicht einfach eine gebührende Redlichkeit und Wahrhaftigkeit verweigert werden und eine nach Aufmerksamkeit strebende Bewertung, wie Adalbert Schnee als „geltungssüchtiger Kommandant“ (so der ZDF-„Geschichtsexperte“ Guido Knopp) sollte erst recht zurückgewiesen werden. Faktisch ist ein Nachkoppeln der Bewegungen von U 2511 und HMS Norfolk auf der Grundlage der verfügbaren Dokumente und Aussagen aber nur mit vielen Hochrechnungen und Annahmen möglich und scheint eher die Unmöglichkeit irgendeiner Begegnung von U 2511 und HMS Norfolk zu beweisen. Die vermutlichen Motive hinter der sich so hartnäckig haltenden Geschichte des Scheinangriffs von U 2511 auf HMS Norfolk reichen vom möglichen Willen, die in den letzten Kriegstagen angeblich bewiesene taktische Überlegenheit eines Typ XXI U-Bootes nun als stützendes Argument für die These zu verwenden, dass mit den neuen Elektro-U-Booten noch einmal eine „Wende“ im Seekrieg hätte herbeigeführt werden können, bis hin zu klar persönlichem Stolz eines erfolgreichen U-Bootkommandanten über eine letzte Glanzleistung mit neuem Boot.

Die Typ XXI U-Boote wie U 2511 waren zweifellos ein gewaltiger technologischer Fortschritt im U-Bootbau und eröffneten bislang nicht mögliche Einsatzverfahren im Ansatz von U-Booten. Weil sie erst so spät eine vertretbare Frontreife erreichten, haben sie jedoch nie Kampfeinsätze erlebt und konnten deshalb auch nie Nachweise für die neuen taktischen Möglichkeiten erbringen.

Insgesamt kann zwar der Mythos um die späte, aber noch mögliche „Wende“ im Seekrieg durch den Typ XXI (und auch XXIII) mit aller Deutlichkeit verworfen werden. Der Mythos um den Scheinangriff von U 2511 auf HMS Norfolk hingegen kann zwar mit guten Argumenten hinterfragt werden, dennoch können die Aussagen der Zeitzeugen nicht einfach nur als „Dichtung“ abgetan werden. Beide Extreme in der Bewertung sind deshalb falsch: Uneingeschränktes Aufrechterhalten des Mythos vom Scheinangriff genauso wie völliges Verwerfen. Jeder muss deshalb auf der Grundlage aller zu Verfügung stehenden Fakten, dazu gehören eben auch die mit der gebotenen Vorsicht zu genießenden Aussagen von Zeitzeugen, für sich entscheiden, wie er die Geschichte um den angeblichen Scheinangriff von U 2511 aus HMS Norfolk nun einordnen will.


Ausgewählte Literatur:

  • Bekker; Cajus: Kampf und Untergang der Deutschen Kriegsmarine, Hannover 1953
  • Busch, Harald: So war der U-Bootkrieg, Gütersloh 1952
  • Frank, Wolfgang: Die Wölfe und der Admiral, Oldenburg i.H/ Hamburg, 1953
  • Hessler, Günter: The German U-boat War in the Atlantic 1939-1945, veröffentlicht durch MoD UK, London, 1989.
  • Knoop, Guido: History – Geheimnisse des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 2002.
  • Niestlé, Axel: Der Fronteinsatz des U-Bootes U 2511, in: Marineforum 12-1998
  • Schnee, Adalbert: Die erste und letzte Feindfahrt von U 2511, in: MOH-Nachrichten 3-1964
  • Paterson, Lawrence: Black Flag – Surrender of Germany´s Uboot Forces, Minneapolis und Barnsley 2009.

Textbeitrag und Fotos Deutsches U-Boot-Museum

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