Die Evakuierung
U-Boote und ihr Beitrag zur Evakuierung von Flüchtlingen aus Ostpreußen 1945
Ein wohl nie ganz aufzuklärendes Kapitel in der Geschichte der deutschen U-Boote ist deren Beteiligung an den Rettungsaktionen über die Ostsee für die Flüchtlinge aus Ostpreußen in den ersten Monaten des Jahre 1945. So sehr bereits die tatsächliche Entwicklung des Dramas um die Rettung der Flüchtlinge aus Ostpreußen über See von Januar 1945 bis Mai 1945 und die dazu gehörenden Zahlen in der Darstellung große Unterschiede aufweisen, so sehr ist auch die Rolle der U-Boote bei den Rettungsmaßnahmen nur ungefähr zu ermitteln.
Vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur hat sich festgesetzt, dass allein durch die Kriegsmarine mit eigenen Transporten oder Geleitschutz für Transportfahrzeuge, insgesamt werden hierbei rund 400 beteiligte Kriegsschiffe und rund 670 zivile Schiffe genannt, rund 2,5 Millionen Flüchtlinge über See aus Ostpreußen gerettet werden konnten. Ohne Zweifel darf dieses, wie immer die Zahlen am Ende tatsächlich auch gewesen sein mögen, als eine der größten Evakuierungsoperationen über See aller Zeiten eingeordnet werden.
Aber, ein genaueres Hinschauen bei den Zahlen und den Angaben zu den einzelnen Rettungswegen relativiert dieses Bild und lässt die Rolle der Kriegsmarine und ihrer damaligen Führung in einem etwas anderen Licht erscheinen. Ein Blick in die Literatur zeigt nämlich Schwankungen in den Zahlenangaben zwischen 1,54 Millionen (Brustat Naval, dieser Autor nennt in anderen Büchern sogar bis zu 3 Millionen Flüchtlinge) über 1,97 Millionen (Dincklage, Witthöft) bis hin zu 2,20 Millionen (Rahns neuere Untersuchungen von 2006). Zudem muss man auch unterscheiden zwischen den Flüchtlingen, die tatsächlich sicher nach Westen gebracht werden konnten und solchen, die nur über die Häfen von Pillau und anderswo nach Danzig zwischentransportiert wurden. Dabei gilt es auch, zwischen zivilen Flüchtlingen, verwundeten Soldaten und aktiven Soldaten zu unterscheiden, was bei den Zahlenangaben häufig durcheinander geht.
Auch hat es Ende Juli bis Ende Oktober 1944 bereits die Evakuierung von rund 170.000 Soldaten und zivilen Flüchtlingen aus den Baltischen Staaten und Memel nach Ostpreußen gegeben. Nimmt man also den Begriff „Rettung über See“ wörtlich und versteht man darunter den Transport von Menschen aus Ostpreußen in sichere Häfen in Pommern, Mecklenburg, Schleswig-Holstein und im deutsch besetzten Dänemark reduzieren sich die Zahlen solcher von der Kriegsmarine mit eigenen oder geschützten Fahrzeugen transportierten Soldaten, Verwundeten und Flüchtlingen bei großzügiger Berechnung auf ca. 1,4 Millionen (vgl. Artikel von Schwendemann), was aber immer noch ein gewaltige logistische und geschichtlich einzigartige Leistung darstellt.
So haben sich zwangsläufig zahlreiche Mythen um diese Evakuierungsmaßnahmen entwickelt, die von einer fast heroisierenden Rolle der Kriegsmarine und ihrer Führung (insbesondere: Großadmiral Karl Dönitz als angeblicher „Retter von Millionen“) auf der einen Seite, bis hin zum Vorwurf schwerer Versäumnisse bei diesen auf der anderen Seite reichen, nämlich hunderttausende von zivilen Flüchtlingen wegen anderer Prioritätensetzung eben nicht mehr aus Ostpreußen gerettet zu haben.
Studiert man die Befehlslage der Kriegsmarine, war in den ersten Monaten 1945 der Transport von zivilen Flüchtlingen aus Ostpreußen in den sicheren Westen lange nur eine nachrangige Aufgabe. Absoluten Vorrang hatte die militärische Unterstützung der noch in Kurland und Ostpreußen kämpfenden Truppe. Zivile Flüchtlinge durften bestenfalls auf den leeren Rückfahrten mitgenommen werden, und das erst unter Berücksichtigung der Mitnahmeerfordernisse für evakuierte Soldaten, Verwundete und Material. Eine eindeutig neue Prioritätensetzung der Marineführung zugunsten der Rettung von zivilen Flüchtlingen kann in den Dokumenten erst für die letzten Tage des Krieges nachvollzogen werden, nämlich beginnend mit der Rede des nach dem Selbstmord Hitlers zum Nachfolger als Reichspräsidenten bestimmten Großadmirals Karl Dönitz an das deutsche Volk vom 01.05.1945 und weiteren Weisungen, wie etwa vom 04.05.1945 (Seekriegsleitung übermittelt Weisung, möglichst viele deutsche Menschen Zugriff Bolschewismus zu entziehen“) oder vom 06.05.1945 (Gezielte Abstellung von Treibstoff für die Rettungsschiffe).
Die dennoch gelungenen Transporte von zivilen Flüchtlingen sind im Wesentlichen also das Ergebnis bewundernswerten Organisierens von vielen dort zuständigen Kommandeuren der Kriegsmarine (allen voran die Wehrmachts-Seetransportdienststelle unter Konteradmiral Conrad Engelhardt), oft in eigener Auslegung bestehender Befehlslage, aber auch bemerkenswertem Verhalten von Führung und Besatzungen der beteiligten Kriegs- und Handelsschiffe.
In diese Betrachtung müssen nun auch die in der Ostsee Anfang 1945 noch befindlichen U-Boote einbezogen werden. Sie waren per se natürlich keine für Evakuierungen geeignete Fahrzeuge und deshalb auch nicht Bestandteil der Planung und Durchführung der zuständigen Kriegsmarine-Kommandos.
Im Gegenteil: Die Fortführung des U-Bootkrieges, nun mit den vermehrt zulaufenden Elektrobooten, war bis Anfang Mai 1945 klare Absicht. Demzufolge galt es Anfang 1945, die noch in der östlichen Ostsee für Zwecke der U-Bootausbildung befindlichen Einrichtungen und Fahrzeuge nach Westen zu verlegen, um dort die Ausbildung fortzusetzen. An Bord der am 30.01.1945 unter tragischen Umständen auf ihrer Fahrt von Gotenhafen mit ca. 10.000 Menschen an Bord in der Ostsee durch ein sowjetisches U-Boot versenkten Wilhelm Gustloff befand sich z.B. die gerade evakuierte 2. U-Bootlehrdivision mit rund 900 Soldaten.
Aber, wie wir heute wissen, hat es dennoch auch U-Boote gegeben, die in bewusster Umgehung der bestehenden Befehlslage in den ersten Monaten des Jahres 1945 Menschen aus Ostpreußen über See in den sicheren Westen retten konnten, von Soldaten und Verwundeten, über Kinder und Jugendliche, bis hin zu Familienangehörigen. Da es dazu nur unvollständige Aufzeichnungen gibt, oft wegen der Nichtbeachtung von Befehlen natürlich auch bewusst nicht dokumentiert, reichen die geschätzten Zahlen dazu von 40 bis zu 47 an solchen Aktionen beteiligten U-Booten, die insgesamt zwischen 1.400 und um die 1.500 Menschen mitgenommen hatten.
Nur wenige Fälle von Rettungsaktionen sind umfassend dokumentiert. Erwähnt seien hier die Fälle von U 999 und U 3505.
Zu U 999 hat die Enkelin des Kommandanten des U-Bootes (Oberleutnant z.S d.R. Wolfgang Heibges), Charlotte Segebarth 2003 für einen Geschichtswettbewerb einen prämierten Aufsatz „Der Wolf und die 7 Geißlein“ veröffentlicht, der die Rettungsaktion der Besatzung von U 999 unter OLtzS Wolfgang Heibges für 3 Mütter mit insgesamt 7 Kindern und weiteren 40 Hitlerjungen von Hela nach Warnemünde am 13./-14.03.1945 beschreibt.
Diese anrührende Geschichte kam aber bereits 1984/ 1985 an das Tageslicht, als sich eine der damaligen Mütter an das U-Boot Archiv wandte, um Aufklärung über ihren Retter zu bitten, an den sie sich nur noch als „Wolf“ erinnern konnte. Es konnte geholfen werden und es kam zu einer wunderbaren Zusammenführung der beiden, das Flensburger Tageblatt erzählte dieses schöne Ende in seiner Ausgabe v. 14.03.1985. Zu dieser Rettungsaktion ist aber auch überliefert, dass sich der Kommandant hierfür nach Ankunft beim „Führer der U-Boot-Ausbildungs-Flottillen“ zeitweise wegen Nichtbeachtung eines bestehenden Befehls rechtfertigen musste.
Zu U 3505 gibt es sogar eine szenische Dokumentation („Verbotene Rettung“), gezeigt im Fernsehen erstmalig auf ARTE am 01.11.2006 und bei PHOENIX am 28. u. 29.07.2008. Dieser Film schildert mit Dokumentaraufnah-men und nachgespielten Szenen die abenteuerliche Rettungsaktion des Kommandanten des neuen Typ XXI U-Bootes, des 24jährigen Oberleutnant zur See Horst Willner und seiner 65 Mann starken Crew für seine eigene Familie (24jährige Ehefrau und 3 Monate alte Tochter), drei weitere Frauen sowie 50 Hitlerjungen im Alter von 12 bis 16 Jahren (manche Berichte nennen sogar 110 Hitlerjungen) von Danzig (Auslaufen am 28.03.1945) über Gotenhafen und Bornholm nach Travemünde (Einlaufen 02.04.1945).
Von mehreren U-Booten liegen dem U-Boot-Archiv Augenzeugenberichte vor, die belegen, unter welch schwierigen Umständen die U-Boote Flüchtlinge aller Art mitgenommen hatten und was sie mit dem Transport hinsichtlich der Befehlslage dazu an dienstlichen Problemen riskiert hatten. Diese Berichte zeugen von dem großen persönlichen Einsatz und Mut vieler Angehöriger der U-Bootwaffe, unter klarer Missachtung der Befehle dennoch Flüchtlinge in ihren Boote mit nach Westen zu nehmen.
Zwei von diesen Berichten wollen wir genauer erwähnen, wobei wir den üblichen Vorbehalt gegenüber Augenzeugenberichten nicht vergessen wollen. So schreibt der damals in der Kommandantenausbildung befindliche, ehemalige Obersteuermann Walter Kaeding, frisch zum Leutnant zur See befördert und am 09.01.1945 sogar zum ad hoc Kommandanten ernannt, um mit U 56 den Stützpunkt der Ausbildungsflottille in Pillau zu räumen: „Aus unerfindlichen Gründen hatten die Boote unserer Flottille Befehl, keine Flüchtlinge an Bord zu nehmen“, schreibt Kaeding. Am 28.01.1945 kam der Auslaufbefehl und Kaeding, der die Not der Flüchtlinge in ihrer ganzen Tragweite erkannt hatte, erlaubte schließlich die Anbordnahme von 2 Müttern mit insgesamt 4 Kindern.
Bei schwerem Wetter gelang es schließlich am 30.01.1945 in Kiel einzulaufen und die Flüchtlinge sicher abzugeben. Dennoch musste er sich vom Chef der 5.U-Flottille, übrigens sein Kommandant, als er noch auf U 123 als Obersteuermann gefahren war, „einen eigenmächtigen Umgang mit Befehlen“ vorhalten lassen. Korvettenkapitän Moehle ließ dann aber erkennen, was er wirklich von der Rettungsaktion hielt: Er hätte es als großartig empfunden, dass Kaeding trotz aller anders lautenden Befehle Flüchtlinge mitgebracht hatte und gab ihm zur Anerkennung einen Cognac aus.
Vom Kommandanten des erst am 02.12.1944 bei der Schichau-Werft in Danzig in Dienst gestellten Typ XXI U-Bootes U 3513 (Mit Namenszusatz:“ Peter von Danzig“), OLtzS Otto Nachtigall, wird berichtet, was er bei seinen Verlegungsmarsch von Danzig in die Lübecker Bucht erlebt hatte. Im Januar 1945 beschloss die Besatzung von U 3513, die Freunde, Bekannte und Familienangehörigen, die mitfahrwillig waren, auf der nach ihrer restlichen Werftliegezeit in Danzig zu erwartenden Verlegung ihres und anderer U-Boote in den Westen, mitzunehmen, man hatte Platz für bis zu 100 Passagiere geschätzt. Am 17./18. März verlegte U 3513 mit etwa 30 Flüchtlingen an Bord zunächst von Danzig nach Hela, obwohl Nachtigall bei seiner Abmeldung beim Führer der U-Boote Ostsee noch einmal belehrt worden war, keine fremden Personen, besonders Frauen und Kinder an Bord zu nehmen. In Hela gab U 3513 seine Passagiere vorübergehend ab, um seine abschließende Frontreifeprüfungen bei der dortigen „Agru Front“ zu durchlaufen. Nach deren erfolgreichem Abschluss wurde das U-Boot seeklar für die Verlegung nach Travemünde gemacht.
Die Besatzung nahm dann die 30 ausquartierten Passagiere aus Danzig wieder an Bord und überraschenderweise wurden dem U-Boote noch weitere 50 Hitlerjungen zu Mitnahme zugewiesen, die wohl, was die Befehlslage anging, eine gewisse Ausnahme vom Mitnahmeverbot hatten. Zusammen mit zwei weiteren U-Booten verließ U 3513 dann Hela am 23.03.1945 (Danzig wurde am 27.03.1945 von der Roten Armee erobert) und erreichte Travemünde mit seinen Flüchtlingen an Bord sicher am 25.03.1945
Einige Boote haben 50 und mehr Menschen mit an Bord genommen. So U 3507 am 28.02.1945 unter OLtzS Otto Niethmann mit 60 Hitlerjungen, U 1110 unter OltzS Joachim-Werner Bach im März 1945 60 Flüchtlinge, U 3012 am 28.03.1945 unter KptLt Friedrich Kloevekorn 60 FlaK-Soldaten und U 3023 unter OLtzS Erich Harms am 29.03.1945 sogar 120 FlaK-Soldaten. U 903 unter OLtzS Otto Fränzel nahm am 31.01.1945 auf einer Fahrt von Kolberg nach Swinemünde sogar 58 Überlebende der Wilhelm Gustloff mit. U 1306 unter OLtzS dR Ulrich Kiesling unternahm sogar zwei Transportfahrten, einmal am 25.01.1945 von Pillau nach Kiel mit 10 Jungen und 2 Mädchen und noch einmal am 10.03.1945 von Hela nach Kiel mit einer Mutter, ihren 3 Kindern und weiteren 15 Hitlerjugendlichen. Auffällig ist, dass unter den rund 1.500 durch U-Boote Geretteten rund 520 Hitlerjungen waren, die damit einen besonders großen Anteil unter den Flüchtlingen stellten.
Fazit:
Die „Rettung über See“ von rund 1.500 Menschen war für viele der in der Ostsee in den letzten Kriegsmonaten noch befindlichen U-Boote eine mutige und zutiefst menschliche Entscheidung, bestehende Befehle zur Mitnahme von Flüchtlingen wurden bewusst nicht beachtet. Die genauen Einzelheiten und Zahlen dazu werden wohl nie ganz zu ermitteln sein, was sicherlich auch mit den Wirren und dem Chaos in den letzten Wochen des Krieges zu erklären ist, andererseits aber auch nie umfassend dokumentiert worden ist, weil eben zum Teil klar gegen Befehle verstoßen worden ist.
Aus heutiger Sicht sind die Rettungsaktionen der U-Boote in der Ostsee natürlich ein besonderes Kapitel in der Geschichte der U-Bootwaffe, zwar klein in ihren Dimensionen, aber groß in ihrem menschlichen Aspekt.
Literatur und Quellen:
- Brustat-Naval, Fritz: Unternehmen Rettung, Koehlers Verlagsgesellschaft, Herford 1970 (4. Auflage 1985) Dinklage, Ludwig u. Witthöft,
- Hans-Jürgen: Die deutsche Handelsflotte 1939-45, (2 Bände), Nikol-Verlagsgesellschaft, Hamburg 2001
- Hartwig, Dieter: Großadmiral Karl Dönitz – Legende und Wirklichkeit, (Kapitel IX: „Retter von Millionen“ auf S. 125-139 mit 102 Anmerkungen auf S.344-349) Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn und München, September 2010
- Müller, Wolfgang: Schicksale Ostsee 1945, Koehlers Verlagsgesellschaft, Hamburg 1996 Rahn, Werner und Müller,
- Rolf Dieter: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, (10 Bände, Bd. 10 von Müller, Rolf Dieter: Das Ende des Dritten Reiches, Deutsche Verlagsanstalt, München 2008)
- Rahn, Werner und Schreiber, Gerhard: Kriegstagebuch der Seekriegsleitung 1939-45 (68 Bände, Bd. 65/Januar 1945, Bd. 66/ Februar 1945, Bd. 67/ März 1945, Bd. 68/ 1. – 20. April 1945, Verlag Mittler & Sohn, Herford 1996/ 1997
- Salewski, Michael: Die deutsche Seekriegsleitung, Bd. II (1942-1945), Bernhard & Graefe Verlagsgesellschaft, Frankfurt 1970
- Schmidtke, Martin: Rettungsaktion Ostsee 1944/1945, Bernhard & Graefe Verlag, Bonn 2006
- Schwendemann, Heinrich: Artikel „Schickt Schiffe!“ in: Die ZEIT v. 13.01.2005
- Speckmann, Thomas: Höllenfahrt mit Porzellanfracht, in: FAZ v. 24.12.2003, S. 40ff., gleicher Artikel später als: Der Wolf und die sieben Geißlein – U 999 rettet deutsche Flüchtlinge, in: Ausgabe 01/2005 des Museumsmagazins der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2005
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Verzeichnis der U-Boote, die Anfang 1945 befehlswidrig Flüchtlinge über die Ostsee brachten unter: www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/ksp/ostsee/uboat-people.htm
Text: Peter Monte – Fotos: Deutsches U-Boot-Museum