Der Fall Lusitania
Die Versenkung der Lusitania und eine Befehlsverweigerung auf SM U 20?
Am 13.05.2007 wurde eine 90minütige britisch-deutsche TV-Produktion mit bekannten Schauspielern der Öffentlichkeit vorgestellt, die die Ereignisse um die Versenkung des 31.000 BRT großen britischen Passagierschiffs Lusitania am 07.05.1915 vor der Irischen Südküste durch das U-Boot U 20 der Kaiserlichen Marine als Spielfilm darstellt. 1.200 Menschen kamen dabei ums Leben, darunter 128 US-amerikanische Staatsbürger, was danach zu erheblichen politischen Spannungen führte. Dieser TV-Film ist seitdem immer wieder im britischen, US-amerikanischen und deutschen Fernsehen, aber auch vielen anderen Ländern gezeigt worden, denn er wird von einer guten Vermarktung getragen, insbesondere zeigen ihn Spartenkanäle wie „History Channel“, „Discovery Channel“, „National Geographic“ und „N 24“, „ntv“ und „Phoenix“ (zuletzt am 01.03.2012) regelmäßig weiter. In den USA wurde der Film erstmalig am 13.05.2007 gezeigt, die britische BBC strahlte ihn erstmalig am 27.05.2007 aus und in Deutschland wurde er erstmalig durch die ARD am 28.12.2008 präsentiert.
Eine der Kernszenen des Films ist dem Ablauf der Ereignisse an Bord von U 20 gewidmet, die die Entdeckung des englischen Passagierdampfers, die Zieldatenermittlung und schließlich den tödlichen Torpedoschuss umfasst. Höhepunkt ist dabei die Weigerung eines Besatzungsangehörigen, des „Steuermannsmaat“ Charles Vögele, den Befehl des Kommandanten, Kapitänleutnant Walther Schwieger, zum Abfeuern eines Torpedos an den Torpedoraum weiterzugeben, weil es sich bei dem Ziel um ein Passagierschiff mit Frauen und Kindern an Bord handeln würde.
Das Drehbuch des Film hat diese Szene der marinegeschichtlichen Literatur über den Lusitania-Zwischenfall entnommen, wie sie sich aus einem Leserbrief an die französische Zeitung „Le Monde“ vom 09.11.1972 entwickelt hat und ihre vorläufigen Höhepunkte in dem 1981 erschienenen Buch „Seven Days to Disaster: The Sinking of the Lusitania“ der irischen Autoren Des Hicksey und Gus Smith (deutsche Fassung 1982: „Lusitania – Die Chronik der letzten Fahrt eines Ozeanriesen“) oder dem Buch der britische Autorin Diana Preston´s von 2002 „Lusitania: An Epic Tragedy“ (deutsche Fassung 2004 „Wurde torpediert, schickt Hilfe – Der Untergang der Lusitania 1915“) gefunden hat.
Die angebliche Geschichte der Befehlsverweigerung des Charles Vögele mit dessen anschließender Verurteilung und dreijährigen Haftstrafe in der Marinestrafanstalt Kiel hält sich seitdem hartnäckig als quasi Fakt. Die aktuelle deutsche Fassung des Internet-Lexikons „Wikipedia“ gibt sie unverändert wieder, dort wird der „Steuermannsmaat“ des Films, Charles Vögele, sogar zum „Ersten Offizier“ von SM U 20 ernannt.
Nach den Recherchen unserer Freunde vom „Arbeitskreis Krieg zur See 1914-1918 e.V.“, veröffentlicht im März 2012 im Heft Nr. 8 ihrer regelmäßig erscheinenden Informationsschrift „Marinenachrichtenblatt“, ist die Geschichte der angeblichen Befehlsverweigerung eines Charles Vögele als absoluter Unsinn und als völlig frei erfunden einzustufen. Ein „Charles Vögele“ ist nie auf U 20 gefahren, irgendeine Befehlsverweigerung an Bord bei der Versenkung der Lusitania ist nirgendwo vermerkt. Irgendwelche Unterlagen zu einem angeblichen Militärge-richtsverfahren gegen einen Charles Vögele und dessen angebliche, dreijährige Haftstrafe in einer Marinestrafanstalt in Kiel existieren nicht.
Wohl aber existieren Unterlagen über einen aus Straßburg im bis 1918 noch deutschen Elsaß stammenden Carl-Alfons Vögele, der im Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1917 zunächst bei der II. Seefliegerabteilung in Wilhelmshaven und dann ab Februar 1917 als „Heizer“ auf dem Torpedoboot „S-142“ in der Nordsee Dienst getan hat. Bevor auf die Geschichte der Entstehung dieses Mythos um eine Befehlsverweigerung an Bord eines U-Bootes der Kaiserlichen Marine weiter eingegangen wird, sollten wir bei der Bewertung der o.a. Kernszene einfachste mathematische Kenntnisse bemühen, um allein schon die Fragwürdigkeit der im Film und den o.a. Büchern geschilderten Abläufe um den Torpedoschuss zu erkennen – und damit der angeblichen Befehlsverweigerung eine ungewollt tragische Auswirkung beizumessen.
Zum Zeitpunkt des Torpedoschusses lief die Lusitania etwa 18 Seemeilen pro Stunde (= 33,33 km/h), die Entfernung zwischen U 20 und ihr war rund 700 Meter und der Torpedo von U 20 hatte eine Geschwindigkeit von 27 Seemeilen pro Stunde (= 50,0 km/h). Der Torpedo brauchte also für die 700 Meter nach dem Abschuss etwa eine Laufzeit von etwa 50 Sekunden, in der die Lusitania rund 400 Meter zurücklegte. Diese Werte werden bei der Einstellung von Kurs, Tiefe und Geschwindigkeit des Torpedos vor dem Abschuss berücksichtigt, neben dem korrekten Schätzen von Kurs und Fahrt des Zieles ist das Entscheidende, den richtigen Vorhaltwinkel für den Torpedokurs zu errechnen, da ja während der Laufzeit des Torpedos das Ziel weiterfährt. Nach dem Kriegstagebuch von U 20 wurde die Lusitania an der Steuerbordseite mittschiffs kurz hinter der Brücke getroffen. Hätte die Befehlsverweigerung an Bord von U 20 tatsächlich so stattgefunden und hätte das vielleicht 30 Sekunden Zeitverzögerung gekostet, wäre die Lusitania in dieser Zeit rund 200 Meter weitergelaufen.
Demnach hätte also erst die Befehlsverweigerung mit dem verzögerten Abschuss des Torpedos zum Mittschiffstreffer geführt, da die Einstellungen am Torpedo ja in dieser Zeit nicht verändert worden sind. Bei sofortigem Abschuss des Torpedos ohne zeitverzögernde Befehlsverweigerung hingegen wäre der Torpedo erfolglos in kurzem Abstand an der 239 Meter langen Lusitania vorbeigelaufen, weil die Schusswerte zu diesem Zeitpunkt noch zu keinem Treffer geführt hätten. Soweit einfache Mathematik gegen filmische Ausgestaltung mit ungewolltem Ergebnis.
Nun ein paar weitere Fakten in Ergänzung zu den oben aufgeführten Behauptungen in der Geschichte von der Befehlsverweigerung: Der fragliche Leserbrief von 1972 an „Le Monde“ stammt von einem Monsieur Ricklin, damals Literaturprofessor an der Universität Straßburg, der auf das in „Le Monde“ vorgestellte Buch von Colin Simpson zur „Lusitania“ einging. So schreibt über den Elsäßer Charles Vögele u.a.“…,dass er genau am 07.Mai 1915 auf Wache war, als die Lusitania gemeldet wurde. Den förmlichen Befehl, das Schiff zu torpedieren, verweigert er rundweg mit der Begründung, dass es sich um ein Passagierschiff handeln würde und durch das Periskop klar Frauen und Kinder auf der Brücke des Dampfers unterscheidbar seien. Auf Befehl des Kapitäns wurde er sofort unter Arrest gestellt und nach der Rückkehr von U 20 nach Kiel dem Militärgefängnis überstellt, um auf seine Vorführung vor das Kriegsgericht zu warten. Erst im Oktober 1918 wurde er von revoltierenden Seeleuten befreit. Die während der Einkerkerung erlittenen Behandlungen hatten seine Gesundheit aber so angegriffen, dass er seine Rückkehr nach Straßburg nur wenige Jahre überlebte.“
Fakten dazu:
- Carl-Alfons Vögele wurde am 17.11.1886 im damals zum Deutschen Reich gehörenden Straßburg geboren und absolvierte nach der Schule eine Elektrikerlehre. Von 1907 bis 1910 absolvierte er einen dreijährigen Wehrdienst bei der Kaiserlichen Marine, um dann im Rahmen der Mobilmachung 1914 wieder eingezogen zu werden. Bei Kriegsende ging er zurück nach Straßburg, ab 1919 nennt er sich anstelle „Carl-Alfons“ nun „Charles“. Er heiratet dort am 22.05.1920 eine Mademoiselle Juliette Simon und starb dann am 15.06.1926, also 8 Jahre nach Kriegsende.
- Das Kriegstagebuch von U 20 erwähnt keinerlei Befehlsverweigerung, U 20 kehrt am 13.05.1915 von seiner am 30.04.1915 in Emden begonnenen Einsatzfahrt nach Wilhelmshaven zurück. Das Kriegstagebuch erwähnt allerdings am 14.05.1915 die ungewöhnliche persönliche Musterung (= Ansprache) des Flottenchefs an die Besatzung von U 20. Grund hierfür mag die Absicht der Marineführung zur möglichst hochrangigen Belehrung der Besatzung über ihr weiteres Verhalten gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt war die politische Brisanz der Versenkung bereits offenkundig.
- Der gelernte Elektriker Vögele wurde in der Kaiserlichen Marine sicherlich nur im technischen Dienst eingesetzt. Wenn er tatsächlich auf U 20 gefahren wäre, wäre er sicherlich im technischen Bereich des U-Bootes eingesetzt gewesen und hätte die Gefechtsabläufe in der Operationszentrale wohl kaum so mitbekommen, wie es die Geschichte um seine Befehlsverweigerung uns glauben machen soll. Damit scheidet Vögeles angebliche Funktion als Befehlsübermittler in der Operationszentrale ebenso aus, wie das angebliche Erlangen irgendwelcher Detail-Kenntnisse über das Ziel aus Sehrohrbeobachtungen. Am Rande: Auch ist er natürlich niemals der „Erste Offizier“ von U 20 gewesen.
- Selbst wenn Vögele bei Kriegsbeginn 1914 zur U-Bootwaffe gegangen wäre, hätte seine Marinegrund- und U Bootspezialausbildung bis mindestens Frühjahr 1915 gedauert, ein Fronteinsatz bereits im April 1915 auf einem U-Boot wäre demnach eher unwahrscheinlich gewesen.
- In den, allerdings nur indirekt rekonstruierbaren Besatzungslisten von U 20 erscheint kein „Charles Vögele“ auch kein „Carl-Alfons Vögele“. Auch gibt es keinerlei Kriegsgerichtsakten der Kaiserlichen Marine, die ein Verfahren gegen einen „Vögele“ wegen Befehlsverweigerung beinhalten.
- Vögele hat nachweislich auf Kommandos im Befehlsbereich der Marinestation Nordsee gedient, wozu 1915 auch U 20 gehörte. Disziplinarfälle, wie eine offene Befehlsverweigerung, wären also nie in Kiel verhandelt worden, dessen dortige Marinedienststellen der Marinestation Ostsee unterstanden
- Die Kriegsgerichte der Kaiserlichen Marine haben in vergleichbaren Fällen nachweislich nie Haftstrafen mit einer Länge von 3 Jahren verhängt, wie es im Fall Vögele ja angeblich geschehen sein soll. Im Übrigen: Zu langen Haftstrafen verurteilte Marineangehörige saßen ihre Strafe auch in der damaligen Militärstrafanstalt in Köln-Wahn ab, und nicht in Kiel.
- Vermutlich ist die Geschichte, die der elsäßer Professor Ricklin 1972 in die „Le Monde“ brachte, auf Erzählungen der Familie Vögele in den 1960er und 70er Jahren auch im weiteren Bekanntenkreis über ihren berühmten Vorfahren Charles Vögele zurückzuführen, seien es die Witwe Vögele oder deren Sohn, von denen Ricklin irgendwie erfahren hat. Nicht auszuschliesender Beweggrund für die Familie Vögele und Professor Ricklin mag gewesen sein, dass dieses eine mehr als willkommene Gelegenheit war, den Elsäßern mit ihrer wechselvollen Geschichte als französische, dann deutsche und dann wieder französische Staatsbürger aufzuzeigen, wie ein Elsässer Mut zum Aufbegehren gegen einen unmenschlichen Befehl eines Deutschen bewiesen hat.
Fazit:
Und so fällt die Geschichte um die angebliche Befehlsverweigerung des Charles Vögele, literarisch und filmisch natürlich eine Steilvorlage, bei nur wenigem Nachdenken und ein bisschen Nachforschen krachend in sich zusammen. Doch wer wagt es, diesen Mythos aus dem Weg zu räumen, schon gar nicht renommierte militärgeschichtliche Autoren, hieße das doch, auf eine „Münchhausen“-Geschichte hereingefallen zu sein und deren Gehalt nicht weiter geprüft zu haben?
Hinweis: siehe auch Buchbesprechung Patrick O´Sullivan – Die Lusitania
Quellen:
- Hicksey, Des und Smith, Gus „Seven Days to Disaster: The Sinking of the Lusitania“, Collins, London 1981.
(Deutsche Fassung: „Lusitania – Die Chronik der letzten Fahrt eines Ozeanriesen“ bei Droemer & Knauer, München 1986) - Preston Diana, „Lusitania: An Epic Tragedy“, Frank Walker Co, Chikago 2002.
(Deutsche Fassung: „Wurde torpediert, schickt Hilfe – Der Untergang der Lusitania 1915“ DVA, München 2004) - Simpson, Colin, „The Lusitania“, Little, Brown Book Group, Boston 1972.
(Deutsche Fassung: „Die Lusitania – Amerika´s Eintritt in den Ersten Weltkrieg“, Fischer, Frankfurt a.M. 1987
Text und Bilder: Deutsches U-Boot-Museum